Kritik an virtuellen HVs wächst

Kritik an virtuellen HVs wächst

 

„Eine HV ist keine Zoom-Veranstaltung!“ – an plakativen Äußerungen mangelt es nicht, wenn es um die zunehmende Kritik geht an der weitverbreiteten Praxis, die Hauptversammlungen weiterhin im virtuellen Format abzuhalten. Den rechtlichen Rahmen dafür hat die Politik geschaffen. Am 7. Juli 2022 wurde mit breiter parlamentarischer Mehrheit ein Gesetzesentwurf der Ampelkoalition verabschiedet. Paragraf 118a des Aktiengesetzes ermöglicht es Aktiengesellschaften, Hauptversammlungen künftig als Präsenzveranstaltung, als hybride Versammlung oder als rein virtuelle Veranstaltung abzuhalten.

 

 

Obwohl Abstandsregeln und Maskenpflicht abgeschafft sind, haben etliche Unternehmen – darunter auch eine Vielzahl von Blue Chips – in der diesjährigen HV-Saison am virtuellen Format festgehalten. Aktionärsschützer kritisieren, dass diese Praxis vor allem Privatanleger benachteiligt. „Als Aktionär ist man auch Unternehmer. Den treuhänderisch für die Aktionäre tätigen Sachwalter, sprich Vorstand der Gesellschaft, nicht mehr persönlich auf einer Hauptversammlung in Augenschein nehmen zu können, ist ein Malus. Institutionelle Investoren haben die Möglichkeit zum Gespräch mit dem Management im Rahmen von Investorenkonferenzen. Dem Privataktionär steht diese Option nicht offen. Und gerade die Persönlichkeiten im Vorstand können ein entscheidendes Anlagekriterium sein“, meint
Daniel Bauer, Vorstandsvorsitzender der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK). Einzelne IR-Experten monieren, dass die Weigerung von Vorständen, in Veranstaltungen den Aktionären von Angesicht zu Angesicht Rede und Antwort zu stehen, die Glaubwürdigkeit der IR-Arbeit dieser Unternehmen beschädigen könnte.

 

Einer der größten Kritikpunkte der virtuellen HVs ist die Praxis, dass Aktionäre ihre Fragen nur im Vorab in schriftlicher Form und ausschließlich im Wege der Videokommunikation einreichen können. Darüber hinaus müssen in der virtuellen Hauptversammlung nur Nachfragen zu den bereits im Vorfeld gegebenen Antworten und Fragen zu neuen Sachverhalten beantwortet werden. Der Umfang der Stellungnahmen kann auf eine bestimmte Zeichen- oder Minutenanzahl beschränkt werden. Die Ausgestaltung wird den Gesellschaften überlassen. Denkbar sind hier Stellungnahmen in Text- oder Videoform.

 

Die Veranstalter selbst haben einige Herausforderungen zu meistern. Die Anonymität zählt dazu. Die fehlende soziale Komponente durch den persönlichen Austausch mit den Aktionären kann negative Auswirkungen auf den Rückhalt haben – vor allem dann, wenn das Unternehmen in eine neue Phase seiner Entwicklung eintritt oder eine schwierige Zeit durchläuft. Aber auch die Organisation ist vom Procedere aufwändiger. Jörg Nickel, Rechtsanwalt und Steuerberater bei der auf mittelständische Firmen spezialisierten Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ebner Stolz, sieht die größte Schwierigkeit darin, dass dem Fragerecht im Interesse aller Beteiligten ausreichend Geltung verschafft wird. Bei virtuellen HVs wird die Einreichung von Stellungnahmen, aber auch die Veröffentlichung der Vorstandsrede werden auf das Vorfeld der Versammlung verschoben. Das kann problematisch werden, wenn aufgrund einer sehr hohen Teilnehmerzahl mehr Fragen aufkommen, welche die Unternehmen spätestens am Tag vor der Versammlung beantwortet haben müssen.

 

Dazu können innerhalb der Sitzungen Nachfragen gestellt werden, was den Arbeitsaufwand weiter erhöht. Unternehmen müssen dann spontan und meist unter Druck auf solche Rückfragen reagieren können, sie richtig interpretieren und entscheiden, ob die Frage beantwortet wird oder nicht. Um gewappnet zu sein, werden Unternehmen deshalb im Vorab vermehrt Q&A Sheets aufsetzen, also im Vorab ausgearbeitete Fragen- und Antwortlisten. Um auch die zeitliche Vorgabe von vier bis sechs Stunden einhalten zu können, Nickel weiter, sollten sich die Veranstalter im Klaren darüber sein, wie sie Fragen begrenzen und ob sie auch Redebeiträge zeitlich einschränken. „Durch diese Aspekte ist jedoch die Verletzung des Informationsrechts leichter und schneller gegeben“, warnt der Rechtsexperte.

 

Technische Probleme können zu einem weiteren rechtlichen Fallstrick werden, wenn Aktionäre per Mausklick Anfechtungen oder Widerspruch einlegen wollen, diese aber nicht ausüben können, weil die Internetleitung nicht funktioniert. Zwar sind Anfechtungen wegen einer technischen Störung der gesetzlichen Regelung zufolge nur bei einem vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verschulden des Unternehmens gegeben sein. Wie diese rechtliche Grundlage bei einem Präzedenzfall greift, muss die Praxis aber noch zeigen.